Klarstellung: Statt Wahlpolemik setzen Grüne auf die unabhängige Aufklärung ihrer Vergangenheit

kathrin göring-eckardtIn der letzten Woche des Wahlkampfes beobachten wir eine Instrumentalisierung der Pädophilie-Debatte.

Die letzte Volte ist ein öffentlicher Brief von der CSU-Generalsekretärin Dorothea Bär und sechs anderen Frauen aus der JU, in dem die Schreiberinnen Katrin Göring-Eckardt auffordern, sich zu den, wie sie schreiben, “Pädophilie-Verstrickungen” ihres Kollegen Jürgen Trittin zu äußern. “Als Mutter zweier Söhne dürfen Sie zu sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen nicht schweigen.” So weit die Unionsfrauen. In ihrer Antwort fordert Katrin Göring-Eckardt die Union auf, mit dem Thema Pädophilie keinen Wahlkampf mehr zu machen. “Jürgen Trittin selbst hat die Aufarbeitung dieser Gründungsphase der Grünen und die Beauftragung unabhängiger Wissenschaftler mit angestoßen und die Verantwortung für eigene Fehler übernommen. Es besteht auch keinerlei Zweifel an dem entschiedenen Kampf von Jürgen Trittin wie auch der Grünen Partei gegen jede Form von Kindesmissbrauch seit vielen Jahrzehnten”, schreibt Göring-Eckhardt.

Der Brief im Orginallaut:

“Sehr geehrte Frau Bär,

Ihren Brief habe ich erhalten. Als Mutter, als die Sie mich ansprechen, vor allem aber als Spitzenkandidatin von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sage ich Ihnen, dass sich die Grünen vor mehr als 30 Jahren schrecklich verirrt haben.

Ich sage Ihnen aber ebenso klar: Hören Sie endlich auf, mit diesem Thema Wahlkampf zu machen!

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben sich als Partei ausdrücklich für die Verirrungen ihrer Anfangszeit entschuldigt. Nein, Frau Bär, das ist keine „fadenscheinige Entschuldigung“, sondern sie ist in großem Ernst und in Sorge um diejenigen geschehen, die unter der falsch verstandenen Toleranz gegenüber pädophilen Liberalisierungsversuchen gelitten haben. Diese für uns schmerzliche Einsicht ändert aber nichts daran, dass auch die überkommene Sexualmoral der alten Bundesrepublik, um die es generell in den Liberalisierungsdebatten der damaligen Zeit ging, viel Leid verursacht hat. Der Umgang mit Gewalt im engsten Kreis der Familie und mit Kindern hat im Deutschen Bundestag erst Ende der 90er Jahre endgültig eine eindeutige Ablehnung erfahren. Unabhängig davon, dass die Vergewaltigung in der Ehe erst 1997 strafbar wurde, von den Frauen übrigens gegen die Mehrheit von CDU/CSU durchgesetzt, hat es für die Verurteilung elterlicher Gewalt in der Erziehung noch länger gedauert, dazu brauchte es erst eine rot-grüne Bundesregierung. An diese Geschichte sollten Sie sich erinnern, bevor Sie auf Ihr hohes Ross, steigen, Frau Bär. Eine Geschichte, in der Frauen und Kinder, Schwule und Lesben sehr lange Leidtragende waren.

Die offene Aufarbeitung der GRÜNEN Geschichte liegt uns als Partei und auch mir persönlich sehr am Herzen. Und Jürgen Trittin selbst hat die Aufarbeitung dieser Gründungsphase der Grünen und die Beauftragung unabhängiger Wissenschaftler mit angestoßen und die Verantwortung für eigene Fehler übernommen. Es besteht auch keinerlei Zweifel an dem entschiedenen Kampf von Jürgen Trittin wie auch der Grünen Partei gegen jede Form von Kindesmissbrauch seit vielen Jahrzehnten.

Die Aufarbeitung haben wir unabhängig von Wahlkämpfen beauftragt und mit den Forschern um Herrn Professor Walter ausdrücklich verabredet, dass sie völlig frei darin sind, auch Zwischenergebnisse ihrer Untersuchungen zu veröffentlichen – ungeachtet von politischen Auseinandersetzungen auch innerhalb des Wahlkampfes. Die GRÜNEN haben diese Debatten zu lange unhinterfragt gelassen. Auch die Einwände der Feministinnen haben damals nicht ausgereicht, um eine Debatte sehr schnell zu stoppen. Die GRÜNEN haben sich, so zeigen es erste Ergebnisse des Forscherteams von Herrn Professor Walter, vor einem Vierteljahrhundert endgültig von solchen inakzeptablen Positionen verabschiedet.

Für meine Partei und auch persönlich will ich ausdrücklich sagen: Es tut uns und mir unendlich leid und in der Seele weh, dass im Rahmen einer Liberalisierungsdebatte, die Macht- und Gewaltverhältnisse in Frage stellen wollte, auch versucht wurde, neue Gewaltverhältnisse zu legitimieren. Ich hoffe sehr, dass sich Menschen, die darunter gelitten haben und leiden, denen im grünen Umfeld oder in Bezug auf grüne Positionen Leid angetan wurde, bei Herrn Professor Walter oder bei uns melden, damit auch ihre Geschichte Teil der Aufarbeitung werden kann. Und ich wiederhole ausdrücklich, dass ich meine Partei auch in der Pflicht sehe, dort Unterstützung zu leisten, wo wir das können – sei es, indem wir die Verbindung zu Beratungsstellen herstellen oder selbstverständlich Entschädigungen leisten.

Sehr geehrte Frau Bär, sollte es Ihnen tatsächlich um Nulltoleranz gegenüber Kindesmissbrauch und Gewalt gegen Kinder gehen, schlage ich Ihnen gern eine gemeinsame Aufarbeitung der Geschichte der letzten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts vor.

Was die Aufarbeitung unserer Parteigeschichte angeht, werden wir mit Vorliegen der Forschungsergebnisse des Instituts von Professor Franz Walter selbstverständlich auch entsprechende Schlussfolgerungen ziehen. Und das tun wir ganz im Sinne des Missbrauchsbeauftragten Ihrer Bundesregierung, Herrn Röhrig, der unser Vorgehen ausdrücklich begrüßt und unterstützt hat.

Mit freundlichen Grüßen

Katrin Göring-Eckardt”

 

Hintergrund:

In der TAZ hatte der Politologe Franz Walter, der von den Grünen mit der Aufklärung der Vorwürfe beauftragt worden war, am Wochenende beschrieben, dass die Göttinger Alternativen-Grünen-Initiativen-Liste (Agil) in ihrem Kommunalwahlprogramm 1981 Sex zwischen Kindern und Erwachsenen legalisieren wollte. Der damalige Student und Göttinger Stadtratskandidat Jürgen Trittin  sei – so Walter – als eines von fünf Mitgliedern der Schlussredaktion aufgeführt. Nur hinter Trittins Namen stehe “Verantwortlich im Sinne des Presserechts”.

In der Pressekonferenz erklärte Jürgen Trittin, dass die Grünen damals falsche Dinge beschlossen und später unmissverständlich korrigiert haben. Für die nicht reflektierte Formulierung übernimmt Trittin die Verantwortung. “Wir wollen, dass alles aufgedeckt und dokumentiert wird”, skizziert der selbstkritische Spitzenkandidat die grüne Linie.