An die Opfer denken! Uns gegen neue Nazis wappnen! – Gedenkrede von Sigrid Beer zum 9. November

Der 9. November 1938 ist ein dunkler Tag in der deutschen Geschichte. Es ist das Datum, um das herum die Novemberpogrome stattfanden – eine von den Nazis angezettelte brutale Verfolgungsaktion gegen deutsche Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens.

Noch in der frühen Bundesrepublik nannten viele diese Ereignisse „Reichskristallnacht“. Doch dieser Ausdruck ist irreführend und verharmlosend – so, als ob es

  • nur um wenige Stunden in einer Novembernacht gegangen sei,
  • und als ob nur etwas Glas zerschlagen wurde.

Nein! Das ist eine grobe Verzeichnung der historischen Wahrheit! Tatsächlich fanden die Aktionen der Nazis an mehreren Tagen statt. Im Raum Kassel begannen sie sogar schon am 7. November. Und sie dauerten vereinzelt bis zum 13. November 1938.

  • Mehr als 1300 Menschen verloren ihr Leben in Folge dieses Pogroms.
  • Sie wurde ermordet oder in den Selbstmord getrieben.
  • Über 1.400 jüdische Einrichtungen, Synagogen, Betstuben oder sonstige Versammlungsräume wurden zerstört,
  • tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe.
  • In Folge der Pogromnacht wurden ungefähr 30.000 Juden in Konzentrationslager
  • Hunderte von ihnen wurden dort ermordet,
  • oder starben an den Haftfolgen.

Diese Zahlen geben einen Überblick über das Ausmaß des Schreckens und der Gewalt. Es handelte sich um eine flächendeckende Terroraktion.

Die Novemberpogrome markieren ein wichtiges Datum des Übergangs in der NS-Herrschaft:

  • von der seit 1933 systematisch betriebenen Diskriminierung und Ausgrenzung der Menschen jüdischen Glaubens –
  • hin zur systematischen Verfolgung und Vernichtung,
  • die dann im Menschheitsverbrechen des Holocaust enden sollte.

Das ist der historische Ort der Ereignisse!

Der 9. November 1938 ist ein dunkler Tag – auch in der Geschichte unserer Stadt Paderborn. Auch hier kam es nach einer abendlichen “Feierstunde”, bei der im „Schützenhof“ an den gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch vom 9. November 1923 erinnert wurde, zu Pogromen durch die SA und SS. Anführer war der SS-Hauptsturmführer Otto Nagorny. Wohnungen und Geschäfte wurden zerstört und Bürger jüdischen Glaubens verhaftet. Auch die Synagoge war bereits in dieser Nacht ein Ziel. Sie wurde jedoch erst am Nachmittag des nächsten Tages angezündet, weil man zunächst befürchtete, dass der Brand auf andere Gebäude übergreifen könnte.

Am 10. November waren dann tausende Schaulustige anwesend, als die Synagoge in Flammen aufging, darunter auch der Paderborner Bürgermeister – und der Stadtbaurat, der sich aktiv an der Brandlegung beteiligte. Nagorny und seine Schergen führten das Paderborner Pogrom auch in den folgenden Tagen fort. Sie beschmierten Geschäfte und Wohnungen mit antisemitischen Parolen, verhafteten weitere jüdische Bürger und brachten sie mit Bussen vom Domplatz nach Bielefeld.

In der Forschung wird berichtet, dass 62 Männer ins Konzentrationslager kamen, auch nach Buchenwald, um erst nach längerer Zeit wieder entlassen zu werden. Zwei der verhafteten jüdischen Paderborner Bürger, Hermann Steinberg und Herbert Silberberg, starben nach der Entlassung an den Folgen der Haft.

Der November 1938 war ein besonderer Einschnitt in der Eskalation des Naziterrors. Doch an der seit 1933 abnehmenden Zahl der Juden in Paderborn lässt sich auch ablesen, welche Kontinuität die NS-Diskriminierungs- und dann Ausrottungspolitik hatte.

Gegen Ende der Weimarer Republik umfasste die jüdische Gemeinde noch etwa 300 Personen, 1935 waren es noch 170, 1938 noch 110, im Dezember 1941 – der Monat, in dem die erste Deportation der Paderborner Juden erfolgte -nur noch 68. Eine zweite Deportation erfolgte im März 1942 und zwei weitere dann noch im gleichen Jahr. Nach der Deportation sämtlicher Insassen des Arbeitslagers am Grünen Weg am 1.März1943 gab es keine Juden mehr in Paderborn. Viele Menschen und ihre Kultur hier in der Stadt sind der Vertreibungs- und Vernichtungspolitik der Nazis zum Opfer gefallen.

Nicht vergessen – Zusammenhänge erkennen

Wie neigen unser Haupt in der Erinnerung an unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Und wir versprechen, alles zu tun, damit sich so etwas niemals wiederholt!

An den 9. November 1938 erinnern heißt für mich zweierlei tun:

  • An die Opfer denken, sie nicht vergessen.
  • Denn wenn wir sie vergessen,
  • dann lassen wir sie zweites Mal Opfer werden.

Es heißt aber auch:

  • Geschichtliche Zusammenhänge erkennen,
  • die Methoden der Nazis durchschauen –
  • damit sie nicht noch einmal Diktaturen errichten
  • und die Welt in Brand setzen können!

Die Novemberpogrome in Paderborn und vielen anderen Orten des damaligen Deutschland sind ein schlimmes, aber auch wichtiges Lehrstück für uns.

Sie zeigen uns,

  • wie perfide die Nazis ihre Politik inszenierten,
  • wie sie ihr verbrecherisches Programm mit größtmöglicher propagandistischer Unterstützung durchführten,
  • und wie sie Ereignisse in Deutschland und der Welt für ihre Pläne nutzten.

Ein typisches Muster der NS-Herrschaft

Am 7. November 1938 schoss ein 17-jähriger deutscher Jugendlicher, der aus einer jüdischen Familie stammte, in Paris auf einen deutschen Diplomaten und verletzte ihn schwer. Die Tat war Folge einer großen Verzweiflung und Empörung. Der Junge war aus Deutschland geflohen, weil die Lage für ihn dort hoffnungslos war. Er lebte ohne gültige Aufenthaltspapiere in Frankreich und dort lag ein Ausweisungsbefehl gegen ihn vor. Kurz vor der Tat hatte er erfahren, dass seine Familie Ende Oktober 1938 in einer sogenannten „Polen-Aktion“ der NS-Machthaber aus der Heimatstadt Hannover ins Niemandsland zwischen Deutschland und Polen verschleppt worden war – dass also auch sie nicht mehr zu Hause, in der Heimatstadt waren. Das war der unmittelbare Hintergrund der Tat.

Schon am Tag nach Tat, am 8. November, bereitet die NS-Parteizeitung “Völkischer Beobachter” eine kollektive Bestrafung der Juden in Deutschland vor und ereifert sich darüber, dass hier “Hunderttausende von Juden noch ganze Ladenstraßen beherrschen”.

Am Abend des 9. November wird der Tod des deutschen Diplomaten bekanntgegeben. An diesem Jahrestag des Hitler-Ludendorff-Putschs wird nicht nur in Paderborn, sondern auch am Ort des Geschehens, in München, ein Kameradschaftsabend abgehalten. Goebbels hält eine antisemitische Hetzrede vor NS-Führern und sagt unter anderem, dass Racheaktionen gegen Menschen jüdischen Glaubens und ihre Einrichtungen von der Partei zwar nicht vorzubereiten und durchzuführen seien, soweit sie aber spontan entstünden, sollten sie auch nicht verhindert werden.

Die anwesenden NS-Führer verstehen das als indirekte Handlungsaufforderung, um nun den „Volkszorn“ zu organisieren. Sie verständigen noch am selben Abend ihre Gauleitungen. Auch nach Paderborn dürften die Anweisungen ergangen sein:

  • Die Staatspolizei soll Plünderungen verhindern, aber sonst nicht eingreifen. Brände sollen nur gelöscht werden, um umliegende Gebäude zu schützen. –
  • Gleichzeitig sollen in allen Bezirken so viele Juden wie möglich festgenommen werden.

Noch in der Nacht kommt es an hunderten Orten zu gewalttätigen Übergriffen gegen die jüdische Bevölkerung.

Wir sehen an diesem Ablauf ein typisches Muster der NS-Herrschaft. Man ist hier durchaus „findig“ im Umgang mit Ereignissen. Man sucht nach Legitimationen, nach Anlässen und „Aufhängern“ für das, was man vorhat:

  • Scheinbar reagiert man nur,
  • ist scheinbar nur passiver Beobachter,
  • und will nicht etwa als Täter erscheinen.

Bis zu einem bestimmten Zeitpunkt soll noch ein minimaler Schein gewahrt bleiben, der das verbrecherische Handeln überdeckt. Ein besonderer Meister dieser Tarnung war Hitler selbst. Denn der redete ja nicht selbst auf der Münchner Veranstaltung am 9. November 1938, sondern überlässt Goebbels die Initiative. Und er verlässt sich auf das Modell des „Dem-Führer-entgegen-Arbeitens“. Denn so hoch autoritär das NS-System auch war, es war kein System, in dem es ausschließlich Befehl und strikten Gehorsam gab. Untergeordnete Stellen wetteiferten vielmehr geradezu darum, den „eigentlichen“ Führerwillen zu erraten. Und auch darum, dem so imaginierten Willen mit Eigeninitiativen zum Durchbruch zu verhelfen. Es gibt immer wieder diesen Wettlauf in Sachen verbrecherischer „Kreativität“ –

  • bei dem die obersten Machthaber nur noch zusehen mussten.
  • Oder sich der Methode des „Zwischen-den-Zeilen-Befehlens“ bedienten.

In dieser Weise konnten sie auch ganz ohne direkte Befehle Gewalt und große Verbrechen ins Werk setzen. Und genau das geschah im November 1938.

 

Unser Auftrag für Gegenwart und Zukunft

Liebe Freundinnen und Freunde,

wenn wir heute an die Opfer der Nazi-Verbrechen erinnern, dann tun wir das mit großem Schmerz und großer Trauer über die Opfer und die vielen Leben, die zerstört wurden.

Wir tun das aber auch mit Dankbarkeit, dass wir heute eine Gemeinschaft in dieser Stadt sind, in der jüdisches Leben seinen unverrückbaren Platz hat.

Wir müssen lernen aus dem, was auch in Paderborn im November 1938 geschehen ist. Wir haben die Pflicht, alles zu tun, damit sich so etwas nicht wiederholt. Unsere Zusammenkunft ist ein schmerzhafter Blick in die Vergangenheit und ein Auftrag für Gegenwart und Zukunft.

Und deshalb freut es mich auch, dass jedes Jahr Paderborner Schülerinnen und Schüler in die Gestaltung des Gedenktages einbezogen werden.

Und wir müssen uns wappnen gegen neue Nazis,

  • die heute viel geschickter sind als noch vor wenigen Jahren,
  • die unter dem Deckmäntelchen der Biederkeit daher kommen,
  • damit man sie nicht erkennt.

Schauen wir uns genauer an, wie das heute aussieht:

  • Wenn etwa im Zusammenhang mit Arbeitsmigration und der Aufnahme von Flüchtlingen von „Umvolkung“ gesprochen wird.
  • Oder wenn der Begriff des „Völkischen“ wiederbelebt werden soll!

Und wenn man dann auf Nachfrage hört,

  • dass das natürlich nichts mit den Nazis zu tun habe.
  • Und dass auch nicht ihr wichtigstes Hetz- und Propagandablatt gemeint sei,
  • der „Völkische Beobachter“!

Sondern dass man sich bloß auf Debatten von Nazi-Vorläufern aus den 1920er Jahren beziehe, die doch sehr interessant seien.

Da sage ich:

  • Nein, das ist nicht sehr interessant!
  • Das ist brandgefährlich!

Und das mit dem Völkischen ist auch nicht bloß zufällige Wortübereinstimmung, sondern:

  • gezielter und bewusster Tabubruch,
  • um den Bereich des „Sagbaren“ zu erweitern –
  • bis in die Nationalsozialistische Terminologie hinein!

Und es gibt sie immer noch, die ewig Gestrigen, die letzten Monat die erneut wegen Volksverhetzung zu einer Gefängnisstrafe verurteilte, notorische Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck öffentlich feierten!

 

ZIvilcourage und Einmischung brauchen wir – nicht Trumpismus

Und da brauchen wir kein Schweigen als Antwort! Da brauchen wir:

  • Zivilcourage!
  • Da brauchen wir Einmischung –
  • Gegen diesen Versuch!

Und wir brauchen auch keinen Trumpismus in Deutschland. Es ist erschütternd zu sehen, dass offensiv rassistische, sexistische und Hass schürende Äußerungen die Wähler*innen in den Vereinigten Staaten nicht davon abgehalten haben, einem Aufwiegler und Spalter ihre Stimme zu geben. Auch das sozial Verächtlichmachen anderer hat die Menschen nicht innehalten lassen. Es interessiert seine Wähler*innen nicht, dass für ihn die Rechte der arbeitenden Menschen gar nichts gelten, dass er sich selbst rücksichtslos auf dem Finanzmarkt bewegt. Obwohl diese Wähler*innen selbst von Ängsten vor dem Abstieg und Verunsicherung getrieben sind. Es siegen die Kräfte, die Mauern bauen wollen und sich abschotten. Es ist eine Wut gegen die Etablierten, die bisherige Werte über den Haufen wirft und die in Rücksichtslosigkeit mündet.

Statt einen Sozialdarwinismus, der die Schwachen noch weiter abdrängt und Minderheiten ausgrenzt, brauchen wir

  • die offene Gesellschaft,
  • und soziale und Chancengerechtigkeit,
  • und unseren NRW-Zusammenhalt,
  • mit dem wir auch für Schwächere einstehen!

Hüten wir uns davor, den einfachen Parolen nachzugeben, sie nachzuahmen.

Ich mahne uns als Politik, ich appelliere an die zivilgesellschaftlichen Kräfte, an Kirchen und Gewerkschaften, an uns alle, noch mehr für den Zusammenhalt in dieser Gesellschaft zu arbeiten. Das muss in der Politik erkennbar sein und die Menschen erreichen.

Keine Schockstarre am heutigen Tag. Schluss mit kleinlichen politischen Spielchen.

Wir wissen, was unsere Gemeinschaft in Paderborn wert ist. Eine Gemeinschaft von Männern und Frauen, Jungen und Alten. Menschen. Menschen, deren Familien schon lange hier zuhause sind, Menschen, die neu zu uns gekommen sind. Menschen unterschiedlichen Glaubens, uns alle verbindet die Mitmenschlichkeit.

Wir sind die Paderborner Gemeinschaft! Wir brauchen keine Umzüge von Rechtspopulisten durch Paderborn, die sich unsere Stadt offensichtlich als neues Aufmarschgebiet ausgeguckt haben.

Wir brauchen vor unserem Rathaus keinen Hetzer wie Höcke, der vom Germanentum träumt, von 1000 Jahre Deutschland faselt und unsägliche rassistische Vorträge zum „Wesen“ von „Afrikanern“ und „Europäern“ hält. Ich bin froh und stolz darüber, dass ein buntes Paderborn, sich entschieden dagegen stellt.

  • Das ist die richtige Antwort in dieser Zeit!

 

Gegen neue Nazis sich wappnen

Und wenn wir heute an die schrecklichen Tage und Nächte vom November 1938 erinnern, als der Nationalsozialismus in Paderborn und in Deutschland seine schreckliche Fratze zeigte, dann ist eine Lehre doch ganz klar:

Wir müssen uns wappnen

  • gegen die neue Menschenfeindlichkeit,
  • gegen den neuen Rechtspopulismus, der um sich greift –
  • bis in die Mitte unserer Gesellschaft.
  • “Wehret den Anfängen“!
  • Nein zu Antisemitismus!
  • Nein zu Rassismus, Krieg und Fremdenfeindlichkeit!

Das ist die Lehre an diesem Tag!Am vergangenen Samstag wurde in Paderborn mit dem Goerdeler-Schulchor ein beeindruckendes Oratorium in Gedenken an Anne Frank aufgeführt. Der Titel lautete „Anne! Damit wir klug werden“.

Wir erinnern uns, damit wir klug werden.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!