Grüne punkten mit Inhalten – Wahlperspektiven mit Britta Haßelmann

Britta Haßelmann

 „Ich kenne meinen Kalender bis gerade“, erklärt Britta Haßelmann  im Literatur-Café. Am Tag drei nach der Bundestagswahl schildert die grüne OWL-Abgeordnete den Wahltag als ein „Wechselbad der Gefühle“.  Der Andrang ist so groß, dass selbst Außenbänke ins Café gestellt werden. Dicht an dicht hocken über 70 Interessierten beim offenen Abend in der Bielefelder Stadtbibliothek. „Wir haben sicherlich viel Gesprächsbedarf in der nächsten Zeit.“  Damit trifft Britta den Nagel auf den Kopf.

Der Wahltag ziehe sich und man freue sich über jede Zahl. 4.157.564 Zweitstimmen für die Grünen sind das zweitbeste Resultat aller Zeiten. Die Euphorie sei großgewesen, erzählt Britta, weil die ersten Nachwahlbefragungen zwischen vier und sechs Prozent gelegen hätten und um 18 Uhr der Balken bei der ARD / Infratest Dimap plötzlich auf 9,5 % hochgeschossen sei. „Unglaubliche Freude und Erleichterung, trotzdem haben wir unsere Wahlziele, dritte Kraft und zweistellig zu werden, nicht erreicht“, resümiert Britta. (Als wäre sie im Sputnik bei der Paderborner Wahlparty dabei gewesen, wo exakt die gleiche Stimmung herrschte.) Die Briefwahlunterlagen haben dann doch aus der Neun vor dem Komma, die Neun hinterm Komma gemacht. Ein Fragezeichen setzt die Parlamentarische Geschäftsführerin hinter die Umfragezahlen, weil die Prognosen in den Medien Stimmungslagen „unglaublich beeinflussen“. 

Der Rechtsruck sei bitter. Es bedeute eine ungeheure Veränderung der Arbeit im Bundestag. „Wählerinnen und Wähler können wir nicht beurteilen, aber jetzt sitzen mit der AfD-Fraktion teilweise Abgeordnete mit völkischer Haltung und rechtsextremen Auftreten im Parlament“,  stellt Britta fest. „Wie verhalten sie sich, wenn der Bundestag etwa am 27. Januar dem Holocaust gedenkt?“

Es gebe keine einfachen Erklärungsmuster für den AfD-Wahlerfolg. Intensiver müsse über die Zusammenhänge von Strukturschwächen, sozialer Versorgung, mangelnder politischer Bildung, fehlenden Kulturangeboten und Neidkomplexen nachgedacht werden.  An dieser Stelle meldet sich der Bielefelder Fraktionschef Jens Julkowski-Keppler: „Die Gefühlslage schlägt bis unten durch, ist auch nicht nur im Osten zu spüren. Wir müssen deutlich machen, unsere Gesellschaft ist verteidigungswert.“

Alles andere als souverän sei es gewesen, dass plötzlich nicht mehr der älteste Parlamentarier  die erste Bundestagssitzung eröffne, sondern der dienstälteste Abgeordnete. „CDU/CSU und SPD sind hier völlig beratungsresistent gewesen. Diese Lex AfD bringt der Partei die Opferrolle“, ärgert sich Britta, die für ein starkes Bundestagspräsidium wirbt, das auf die Einhaltung von Regeln  achte. Britta bedauert das Ausscheiden von Norbert Lammert. „Es ist nicht irgendeine Marktplatzbude, sondern wir sind im Deutschen Bundestag und können stolz auf unsere Demokratie sein.“

Bei allem Verständnis für die Sozialdemokratie, die ermattet und dezimiert nach acht Regierungsjahren ein weitere Groko ausschließe, sieht Britta eine Gesamtverantwortung für alle Fraktion. Bayerns Regierungspartei sei völlig aus dem Lot: „Die 38% der CSU  scheinen eine Zäsur zu sein. Die Nerven liegen blank“, spielt Britta auf Rücktrittsforderungen an Seehofer an. Damit sei die CSU nicht in der Lage, jetzt schon zu sondieren, Union auch nicht vor der Niedersachsen-Wahl.

„Wir Grünen haben mit den Inhalten gepunktet. Die Sondierungsgruppe muss nun ausloten, ob es auf Grundlage grüner Positionierungen (und der anderen Parteien) ernsthafte Bereitschaft gibt, sich  aufeinander zuzubewegen und Dinge durchsetzen zu können. Wichtig sind mir grüne Projekte“, skizziert Britta den nächsten Schritt.

Der Vorschlag zur Zusammenstellung der 14er-Gruppe ist von Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir, den Spitzenkandidaten, gekommen. Toni Hofreiter und Simone Peter sowie der politische Bundesgeschäftsführer Michael Kellner und Britta als erste Parlamentarische Geschäftsführerin unterstützen den Auswahlvorschlag für den Länderrat. „Mein Parteigefühl sagt mir, eine ausgewogene Mischung. Auch wenn ich nur nach zwei älteren Herren gefragt werde“, merkt Britta an und meint Jürgen Trittin und Winfried Kretschmann. Die Sondierungsgruppe werde der – zeitlich verschobenen – Bundesdelegiertenkonferenz eine Einschätzung unterbreiten, ob Koalitionsverhandlungen aufgenommen werden sollen.  

JAmaika oder NEINmaika – Der Ausgang ist für die Grünen offen, aber hartes Verhandlungsgeschick ohne karibische Automatismen ist gefordert. Das zeigen die Einschätzungen aller Anwesenden. Die Ansichten variieren zwischen der Chance in Regierungsverantwortung grüne Inhalte zu verwirklichen und der großen Skepsis angesichts der Gefahr, für das Scheitern der Verhandlungen verhaftet zu werden.  Auch die Linke und die SPD sehen manche noch nicht aus dem Koalitionsschneider. 

Einiges an Ungewissheit. Aber absolut sicher ist, Britta (Foto: Studio Kohlmeier) hält uns auf dem Laufenden.