Zeitreisen – Reisebericht “Politisches Berlin” dritter Teil

Wir sitzen in der Retourkutsche nach Bielefeld, die Berlin mit einer Verspätung von 11 Minuten verlassen hat. Den Begriff „Retourkutsche“, das wissen wir seit der gestrigen Stadtrundfahrt, stammt aus den Befreiungskriegen 1815, als die Preußen die von Napoleon entwendete Quadriga zurück auf das Brandenburger Tor schafften. Eben per Express-Retourkutsche. In modernen Zeiten reist es sich bequemer. Am heutigen Tag frequentierten wir gleich drei Zeitmaschinen und katapultierten uns durch aufregende Zeitzonen. Die Zeitreise in chronologischer Reihenfolge:

Topographie des Terrors

Inmitten einer weiten Schotterwüste steht ein funktionaler Bau, der die „Topographie des Terrors“ uns Nachwachsenden vor Augen führt. Im Faschismus ballte sich in diesem Areal der Terrorapparat: das Gestapo-Hauptquartier, die SS-Reichsführung und die Zentrale des Sicherheitsdienstes. Mit unzähligen Schautafeln bekommen die Staatsverbrecher ein Gesicht, verändert sich das Überwachungsregime in ein Vernichtungssystem, das den größten Teil Europas erfasst.

Heute noch beängstigend: der planmäßige Verlust der moralischen Maßstäbe und wie jung die Führungsfiguren gewesen sind. Heute noch äußerst beschämend: Wie lax die Justiz und Gesellschaft mit den Tätern umgegangen ist und wie SS-Kader oberste Ränge von BND und BKA innehatten. Diese Hochnotpeinlichkeiten verschweigt die Topographie des Terrors nicht. Draußen in der Berliner Freiluft-Geschichtsausstellung findet sich die Geschichte des Schutzmannes Wilhelm Krützfeld. Der Chef des 16. Polizeireviers trat den Brandstiftern mit gezückter Waffe entgegen und alarmierte die Feuerwehr und rettete die Synagoge Oranienburger Straße. Leider war uns zu dieser Zeit die Zeit schon davon gelaufen, dass es nur bei punktuellen Eindrucken blieb.

Tränenpalast

Schikanen ganz anderer Art dokumentierte der Tränenpalast. Die am Bahnhof Friedrichstraße gelegene und rekonstruierte Grenzübergangsstelle zeigt den Irrsinn des Mauerbaus und das Leid der Familien. Besonders eindrucksvoll die Geschichten um das Fluchtgepäck, das in einen Koffer gepresst werden musste. Das Buch „Emil und die Detektive“ gehörte ebenso zu den Habseligkeiten der Flüchtlinge wie Silberlöffel und feinstes Porzellan.

Aufgereiht wie auf einer Hühnerstange lauschten wir den Ausführungen der jungen dynamischen Reisebegleiterin. Bald mischten sich aber Erinnerungen der Älteren an das DDR-Grenzregime in die Erläuterungen. Was für ein krasser Unterschied, wie damals die Flüchtlinge empfangen wurden zu heutigen

Der Tränenpalast ist eine Dependance des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb gibt es auch hart gegeneinander geschnittene Filmsequenzen der Wochenschauen aus West und Ost. Interessanterweise kommt zuerst immer die Westperspektive.

Und natürlich endete der Tränenpalast mit einem Happyend: dem Mauerfall und der Wiedervereinigung. Da wird dann ganz flugs aus dem Ulbrichtschen „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen“ die Günter Schabowskis Frage nach der Durchlässigkeit der Mauer durch die „nach meiner Kenntnis sofort und unverzüglich in Kraft tretenden“ Reiseregelung.

Heinrich-Böll-Stiftung

Was aus der friedlichen Revolution geworden ist, ist Thema des nächsten Ausstellungsprojektes der Heinrich-Böll-Zentrale, die wir am frühen Morgen besuchen. Helden im Wilden Osten? Die meisten gefragten Zeitzeugen winkten bescheiden ab, erzählt Vera Lorenz, Pressesprecherin Inland, um den Blick kurz auf die damaligen Grünen und Bürgerrechtler*innen schweifen zu lassen. „Der Slogan „Wir reden vom Wetter!“ (wenn alle anderen von Deutschland reden) war nicht unbedingt eine Fehleinschätzung, hat aber auch nicht ganz für das Gros der Bevölkerung gepasst.“

Lorenz muss es wissen. Sie hat an der Journalisten-Schmiede der Karl-Marx-Uni in Leipzig studiert, beschreibt sich als „Kinogängerin, Buchleserin, Menschenkennerin.“ und ist quasi seit Beginn bei der Heinrich-Böll-Stiftung dabei. Sehr sophisticated hatte Lorenz die Stiftungsvorstellung annonciert: „Ich weiß nicht alles.“ In dichter Folge erzählt sie aufschlussreiche Facetten der Stiftungsarbeit.

Mitte der Neunziger Jahre hätten die Grünen beschlossen, ihre Stiftungsaktivitäten zu bündeln. Das Kölner grüne Milieu mit Böll-Kindern, die Frauen-Anstiftung aus Hamburg, und Buntstift in Göttingen galten trotz Regenbogen-Kooperation einfach nicht mehr als schlagkräftig genug. Als Namen waren auch Hannah Arendt, Rosa Luxemburg (alsbald der Name der linken Parteistiftung) im Gespräch. Aber schließlich einigte man sich mit Heinrich Bölls Erbengemeinschaft.

Über die Finanzierung aller politischen Stiftungen stimmen sich die Haushaltspolitiker*innen des Bundestages ab. Maßstab ist die Zahl der Abgeordneten und der Deal gilt für die gesamte Legislatur. Aktuell rechnet die HBS mit 50 Mio. €, um politische Bildungsarbeit im grünen Milieu zu machen. „Da ist weniger Selbstvergewisserung das Ziel, sondern „Akteure gesellschaftlicher Veränderungsprozesse zur Diskussion und Auseinandersetzung zusammen zu bringen.“ Als Beispiel bringt Lorenz die jüdischen Kulturtage. Zum Dreiklang aus Vortrag, Gespräch und Konzert seien viele gekommen, die sie noch nie gesehen hätte, beobachtet die freischaffende Hauptstadtreporterin beim alternativen Radio Lotte in Weimar.

Spektakulär wird die Tour d’horizon zum Schluss, als Lorenz erzählt, dass die aktuelle Praktikant*innen-Generation mit dem Namen Petra Kelly teilweise nicht mehr anfangen könne. Gedanklich, das merkt man an der Mimik, schlägt sie die Hände übern Kopf zusammen. Das grüne Gedächtnis ist in der Schumannstr. 8, 10117 Berlin, in guten Händen. Schließlich ist die alphabethische Vortragsreihe, gestartet mit A wie „Authentizität“, inzwischen beim Buchstaben J wie „Jugend, ewige“ angekommen.