Seenot im Mittelmeer & Politiknot im europäischen Binnenland – Ein Kommentar

Vorbemerkung. Natürlich geben Leserbriefe, wie der folgende, nicht die Meinung der Redaktion wieder: „Kein zivilisierter Staat hat jemals alle Grenzen geöffnet und ganze Völkerscharen ohne Kontrolle hereingelassen und versorgt. Diesen unhaltbaren Zustand will Horst Seehofer beenden. Seit 2015 sieht er die Gefahren für unser Land, er will endlich für Kontrolle und Sicherheit in Deutschland und Europa sorgen. Für seine staatsmännische Verantwortung wird er verleumdet und geächtet. Wie lange ducken sich die anderen Politiker noch weg?“ Ungekürzt zitiert aus dem gestrigen Westfälischen Volksblatt.

Was die Redaktion bewogen hat, ihn abzudrucken, darüber können wir nur spekulieren. Aber die Diktion zeigt, wie sich der politische Diskurs verschoben hat, seitdem Seehofer, Söder & co von einer „Herrschaft des Unrechts“, von „Anti-Abschiebe-Industrien“ und vom „Asyltourismus“ fabulieren. Nicht zu vergessen: „Ankerzentren“ und „Ausschiffungsplattformen“. Der Wettbewerb um das Unwort in diesem Jahr wird hart.

Seebrücken-Demos

Mehr als 2.000 Menschen versammelten sich letzten Samstag zur Seebrücken-Demonstration in Bielefeld. Diesen Samstag wird in Paderborn eine Seebrücken-Demonstration knall-orange Zeichen setzen. Natürlich wird Martin Kolek von der Sea-Watch-Crew, stellvertretend für diverse zivilgesellschaftliche Initiativen, das Wort ergreifen und erläutern, wie frustrierend und inhuman es ist, dass zivile Rettungsschiffe mittels juristischer Tricks und politischer Finten an die Kette gelegt sind. Unterdessen verweigert die italienische Regierung selbst Kriegsschiffen der EU-Marinemission Sophia das Einlaufen und Anlanden von Flüchtlingen.

Unerklärlich für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung, unerträglich und provozierend wirkt diese politische Haltung, angesichts § 98 des Seerechtsübereinkommens: „Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes, jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten“. Diese verordnete Gleichgültigkeit macht wütend und mobilisiert Protest. Völlig zu Recht.

Die Lage in und für Italien ist komplex

Allein Empörung und diese Seenot im Mittelmeer zu beklagen, reicht nicht aus. Der Blick nach Italien zeigt, wie komplex sich eine Lösung gestaltet. Nach der Katastrophe von Lampedusa 2013 lief die italienische Marine zur Rettungsaktion „Mare Nostrum“ aus und zog so viele Flüchtlinge aus dem Wasser wie Paderborn Einwohner hatte.

Im Oktober 2014 scheiterte Mare Nostrum, weil es an europäischer Solidarität mangelte. Kein anderes EU-Land wollte eine größere Zahl an Geretteten aufnehmen. Der Konflikt um die Lastenverteilung zieht sich bis heute quer durch Europa. Das unselige Dublin-System bürdet sehr einseitig Außenstaaten wie Italien und Griechenland die Last auf. Der Ehrlichkeit halber muss gesagt werden: Dies ist durchaus eine auch von Deutschland gewollte und betriebene Politik.

Das Beispiel Italien dokumentiert, wie die ungelöste Verteilungsfrage wie Wasser auf die Mühlen der rechtspopulistischen Bewegungen wirkt. Die Lega Nord unter Matteo Salvini polemisiert, reüssiert und die Fünf-Sterne-Bewegung verglimmt.

Fragwürde Deals mit einem failed state

Übrigens hatte Mare Nostrum nicht zu einem Anwachsen der Überfahrten geführt. Was hingegen einen Einfluss auf die aktuelle Entwicklung hat, sind die Patrouillen der libyschen Küstenwache und Deals mit libyschen Milizen. Die ganze Geschichte spielt in einem failed state.

Die EU will auf dem Mittelmeer möglichst nicht mehr selber retten. Deshalb rüsten Italien und die EU Libyens Küstenwache auf. „Unterbindung der Menschenhandelsnetzwerke“ lautete der Kernauftrag der EU-Mission Sophia. Dabei ist der „Kapazitätsaufbau Libyschen Küstenwache und Marine“ ein wesentliches Teilziel.  Diese soll – so formuliert es die Bundeswehr griffig – „in die Lage versetzt werden, das „Geschäftsmodell“ des Menschenschmuggels auf der Zentralen Mittelmeerroute zu unterbinden, die Sicherheit in libyschen Hoheitsgewässern entlang der etwa 1700 Kilometer langen Küstenlinie zu verbessern und Such- und Rettungsaktivitäten durchzuführen.“ Ungerührt akzeptierte die EU, dass Libyen seine Seenotrettungszone von den üblichen zwölf auf 72 Seemeilen versechsfachte und zivilen Rettungsschiffen entgegen dem Seerecht die Einfahrt verbot.

Aus libyschen Milizionären, Schleuserbossen und Menschenhändlern werden Gefängniswärter im europäischen Auftrag. Um die Jahreswende wurden in Libyen mindestens 24 Lager für mehrere zehntausend internierte Flüchtlinge gezählt. Ihre Zahl ist steigend. Berichte von Geflüchteten, dass in den Lagern gefoltert und vergewaltigt werde, Frauen zur Prostitution gezwungen und Männer als Arbeitssklaven versteigert werden, entsprechen den Einschätzungen vom UN-Hochkommissar für Menschenrechte und der EU-Polizeimission in Libyen. Das Geschäftsmodell der Milizen skizzierte die Wochenzeitung Die Zeit folgendermaßen: „Je mehr Flüchtlinge sie in Lagern festhalten können und je schlechter es diesen Menschen geht, desto stärker wird ihre Verhandlungsposition gegenüber der EU.“ Diese vertragliche Regelung ist ähnlich fragwürdig und fragil wie der Deal zwischen der EU und der Türkei.

Fluchtursachen ernsthaft angehen statt gegen Geflüchtete polemisieren

Beschönigend wird einer „Sicherung der Außengrenzen“ das Wort geredet. Die Zahl der Flüchtlinge, die Europa erreichen, sinkt kontinuierlich. „Ungeachtet dessen wetteifern europäische Regierungschefs und Innenminister um die härteste Politik gegen Schutzsuchende und Migrantinnen und Migranten“, analysiert die Heinrich-Böll-Stiftung. „Nicht Integration derer, die in den letzten Jahren angekommen sind, beherrscht die politische Agenda und die Diskussionen in den Medien, sondern die Weiterverschärfung des Asylrechts, die Einrichtung von Sammellagern sowie die Verstärkung des Grenzschutzes.“

Auch hat die Rede von einer „Fluchtursachenbekämpfung“ Konjunktur. Leider verfestigt sich der Eindruck, dass weder Geflüchtete, ihre UnterstützerInnen und ihre Integration im Fokus der politischen Bemühungen stehen, noch ernsthaft jene Strukturen angegangen werden, die Menschen ihre Würde und Rechte nehmen, ihnen Heimat und Lebensperspektiven rauben. Welchen Anteil an der Armut weltweit hat unser Lebensstandard und Wohlstand? 

Denn dann müssten wir autoritäre, unfrei machende und korrupte Regime wirklich in Frage stellen statt mit ihnen zu dealen. Weiterhin gilt es, unsere Agrarpolitik und Rüstungsexporte grundsätzlich zu ändern, die Lebensgrundlagen in Afrika und im Nahen Osten vernichten. Schließlich: Wie steht es überhaupt um den globalen Klimawandel und die Umweltzerstörungen, die anderswo zum Verlust der Heimat führen.

Darüber müssen wir ehrliche Debatten führen. Als zivilisierte Zeitgenossen in einem ziemlich zivilisierten und fortschrittlichen Land.

Ein Nachwort an die Leserbriefschreiberin

Ach ja, apropos staatsmännische Verantwortlichkeiten und Wegducken der politischen Klasse. Sofort zugegeben: Politik wird kaum, aber auch wir werden nicht alles gleichzeitig anpacken und schaffen können. Unsere liberale Demokratie ist ein mühseliges und faktenorientiertes, aber auch erfolgsversprechendes Aushandeln und Abwägen.

Natürlich gibt es diejenigen, die rechtspopulistischen Krakeeler rechts außen zu überflügeln versuchen und sich die Welt am liebsten schön einfach schwarzweiß oder weiß-blau-rautiert ausmalen. Das kann und darf ärgern.

Aber freuen wir uns über die Anderen, die Mehreren, die sich schämen, wenn Europa Flüchtlinge auf dem Mittelmeer und anderswo im Stich lässt. Die auf die Straße gehen und einstehen für eine lebendige europäische Demokratie und politische Kultur. Aus einer verantwortungsbewussten, wert- und lösungsorientierten Haltung heraus.

Ein Kommentar von Johannes Menze