#Don’tForgetAfghanistan – Rede von Sigrid Beer auf der Seebrücken-Kundgebung

vor dem paderborner rathaus sprechen seebrücken-mitglieder, menschen hören zu

Willentlich nimmt der Aggressor Wladimir Putin Blutvergießen Leid und Flucht in Kauf. Das Völkerrecht wird mit Füßen getreten. Es droht eine neue Grenze des Schreckens und der Blockbildung, getrieben von den Großmachtfantasien des russischen Machthabers. Unsere Solidarität gilt den Menschen in der Ukraine.

Wir müssen die Menschen, die bei uns Zuflucht suchen, aufnehmen. Bund, Land und Kommunen müssen hier schnell und unbürokratisch an einem Strang ziehen. Auch unsere Heimatstadt ist gefragt, Schutz zu bieten.

Lassen Sie uns heute daran erinnern: Nicht nur in der Ukraine zählen die Menschen auf uns. Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan sind dort viele Menschen weiterhin verzweifelt. Sie sind auf der Flucht. Sie verstecken sich. Es sind die Menschen, die sich für Freiheit der Bildung, des Gewissens und der Religionsausübung eingesetzt haben. Diese müssen jetzt in Kabul und anderswo in Afghanistan um ihr Leben und das ihrer Familien fürchten. Viele Menschen in Afghanistan haben uns und unseren Werten vertraut. Sie sind frustriert, enttäuscht oder fühlen sich verraten und an Leib und Leben bedroht.

In meinem Büro in Paderborn sind viele der Hilferufe angekommen und soweit wir es können. Wir versuchen zu helfen, wo es geht. Die Situation ist schon für uns erschütternd und unfassbar. Um wieviel mehr sind die direkt Betroffenen verzweifelt und in Angst.

Ich kann stellvertretend für viele hier nur wenige Schicksale schildern:

Da ist die junge Frau, die Angst hat um ihren Bruder. Die Taliban dringen nachts in Häuser ein, um die zu verschleppen, die als Ortskräfte gearbeitet haben. Männer werden nach dubiosen Beschuldigungen aufgehängt – zur Warnung. Der junge Mann traut sich nicht mehr auf die Straße. Wir brauchen schnell grundsätzlich politische Lösungen für den Familiennachzug, damit in den Kommunen und Ländern agiert werden und mehr Menschen aufgenommen werden können.  

Da ist die junge Frau, die berichtet: Ich habe als selbstbestimmte Frau gelebt. Als Kabul zusammenbrach habe ich meine Wohnung, mein Büro verloren. Ich musste mich bei Verwandten verstecken und konnte durch die Hilfe deutscher Freunde evakuiert werden. Ich lebe jetzt in Deutschland, fürchte aber täglich um das Leben meiner Familie. Die Taliban kennen mich. Ich war politisch aktiv, habe offen demonstriert. Viele meiner Freunde sind gezielt getötet worden. Meine Familie muss ihre Identität verschleiern und mich verleugnen. Sie sind in Gefahr, wenn sie mit mir in Verbindung gebracht werden.

Da erzählt die Witwe eines Militärs, der mit deutschen Truppen zusammengearbeitet hat: Ich bin schutzlos. Meine drei Töchter trauen sich nicht auf die Straße. Sie sind zu uns nach Hause gekommen, haben alles durchsucht, angedroht, dass die Mädchen zwangsverheiratet werden.

Eine andere junge Frau schickt eine Reihe von SMS. Ihre junge Schwester ist verschleppt worden. Es gibt keine Spur von ihr.

Da ist die junge Frau, die sich mit ihren drei minderjährigen Kindern in Afghanistan versteckt hält. Ihr Ehemann wurde von den Taliban abgeholt und drei Tage später tot wieder zurückgebracht.

Da sind Kinder, die wie paralysiert sind und fragen: “Mama, werden die Taliban uns erschießen? Werden sie uns finden? Wann werden wir frei sein und zur Schule gehen, wir vermissen unsere Schule, unsere Klassenkameraden und Lehrer.“ Verbittert schreibt ihre Mutter: Aber ich habe keine Antwort für meine Kinder und schweige. Die, die ihre Stimme für Freiheit, Frieden und die Verteidigung der Menschenrechte erhoben haben, sind heute gezwungen zu schweigen. Wir schweigen aus Angst um die Kinder.

Ehepaare, Eltern und Kinder sind getrennt. Menschen versuchen die Flucht aus Afghanistan über benachbarte Staaten. Wenn sie nicht an der Grenze aufgehalten werden. Händeringend suchen sie nach Anlaufstellen für eine Familienzusammenführung, Möglichkeiten, Anträge zu stellen, ein Visum zu erhalten.

Wir haben uns bemüht, Menschen zu helfen, auf die Evakuierungslisten zu kommen. Der zum Ende des letzten Jahres vorgelegte Aktionsplan der Außenministerin Baerbock umfasst die Beschleunigung der Ausreise aus Afghanistan. Immer noch warten ca. 15000 Menschen auf die Evakuierung. Dazu soll auch in Gesprächen mit Iran, Usbekistan und Tadschikistan alles unternommen werden, um zusätzliche Ausreiserouten aus Afghanistan zu eröffnen. Bürokratische Hürden müssen abgebaut werden, um die Aufnahme und die Einreise nach Deutschland für besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen zu erleichtern und Hindernisse im bisherigen Visumsverfahren zu reduzieren. Gerade mit Blick auf die besondere Lage schutzbedürftiger Frauen und Mädchen sowie von Menschen mit familiären Bindungen in Deutschland soll ein humanitäres Aufnahmeprogramm geschaffen werden. Auch die Familienzusammenführung soll vereinfacht und beschleunigt werden.

Wir drängen von hier aus Paderborn, dass die Maßnahmen so schnell wie möglich auf den Weg gebracht werden. Bund, Land und den Kommunen müssen auch hier an einem Strang ziehen. Der Rat der  Stadt Paderborn hat beschlossen, Flüchtlinge vor anderen Kommunen Zuflucht zu gewähren.

Es darf nicht beim Entsetzen vor den Fernsehern bleiben. Solidarität muss gelebt werden. Auch hier bei uns in Paderborn. Wir haben Platz. Für Menschen aus der Ukraine wie für Menschen aus Afghanistan, die vor Krieg und Verfolgung fliehen müssen.

 

Da Sigrid Beer nicht persönlich vor dem Rathaus auf der Kundgebung dabei sein konnte wurde ihre Rede per Audio eingespielt.